In meinen Plan für dieses Wochenende im Februar pfuscht mir jetzt keiner mehr rein. Mein Ziel ist es, die Alpspitze über die Nordwand-Ferrata (soweit man das im Winter sagen kann) zu besteigen, um dann mit dem Snowboard über den Ostrücken, das Oberkar und schließlich die Bernadeinwände abzufahren. Schon vor 2 Jahren hab‘ ich die Tour mal im Winter gemacht, damals allerdings mit Kurzski und Seilbahnhilfe. War ‘ne nette Aktion, gestunken hat mir bloß die Sache mit der Seilbahn. Das sollte jetzt anders werden. Und was liegt näher, als bei gerade dieser Tour das neue Auto mit der ersten Übernachtung einzuweihen.
So ignoriere ich am Samstag abend alle Gelüste mich tanzender Weise spät ins Nachtleben zu stürzen, und checke statt dessen fahrender Weise in Garmisch ein. Die Lawinenwarnzentrale nennt Stufe 2, perfekt!, die Web-Seite der Zugspitzbahn verspricht Sonne, o.k., ab jetzt will ich nichts mehr hören, diese Tour mach‘ ich. Um 21:30 treffe ich am Parkplatz der Kreuzeckbahn ein und wundere mich über die vielen Wohnmobile. Ich versuche, müde zu werden, trinke ein Bier, lese Diemberger (auch als Einstimmung) und schlafe schließlich bei –5 Grad sehr bequem und mäßig warm.
Morgens stehe ich gegen halb sieben auf, trinke Kaffee aus der Thermoskanne, esse etwas, packe die Softboots in den Rucksack und montiere das Snowboard. Als ich den Rucksack schultere, wanke ich bedrohlich und überdenke den Inhalt. Klar hätte ich das Board mit den Hardboots nehmen können und diese gleich zum Steigen anziehen, hätte einiges an Gewicht gespart, aber so ein traumhafter Tiefschneehang mit Hardboots? Nope, das muß schon das wahre Freerider-Feeling sein. Außerdem fällt das Kletterzeug und das Seil ins Gewicht, aber da läßt sich nichts machen, da haben mich Erfahrungen bei anderen Alleingängen konsequent gemacht.
Ich laufe los über den Weg, den ich schon 100 mal gegangen bin, fühle mich fit trotz des Gewichts auf den Schultern und genieße die morgendliche Stille und Einsamkeit. Ich bin jetzt regelrecht euphorisch und muß aufpassen, daß ich nicht zu schnell laufe. Schlechterdings habe ich bis auf 2620m an die 2000 Höhenmeter im Schnee vor mir.
Umgeben von den ersten Frühaufstehern unter den Pistenfreaks erreiche ich das Kreuzeckhaus. Das Wetter ist einwandfrei, Sonne, optimale Bedingungen, ich gehe ohne Rast weiter Richtung Osterfelder Kopf. Der Blick auf die Alpspitz-Nordwand erfüllt mich mit Begeisterung. Immer wieder war ich auf diesem Berg, alle Wege sind mir vertraut und immer wieder ist es irgendwie was Besonderes, vor allem im Winter hat er eine große Anziehung auf mich.
Das erste Mal pausiere ich auf dem Ziehweg zur Hochalm, lege meinen Rucksack ab und habe durch die Erleichterung das Gefühl zu schweben. Als ich mich zum Weitergehen fertigmache, bricht der Verschluß des Hüftgurtes. Ich ärgere mich über die angeblich beste Rucksackfirma, zumal das Gleiche im Sommer schon bei meinem Kletterrucksack passiert ist. Ab jetzt habe ich das ganze Gewicht auf den Schultern.
Über die Skipiste stapfe ich zum Osterfelder Kopf. Im Hang unter den Schöngängen üben amerikanische Pisten-Ersthelfer und einige deutsche Kurse Verschütteten-Bergung. Die vielen angebundenen Lawinenhunde machen einen Mordsradau, von der Alpspitz-Wand reflektiert entwickelt sich regelrechter Lärm. Als ich in die Seilbahnhütte einkehre, beginnt sich das Wetter zu verschlechtern, leichter Schneefall und die Sonne ist weg. Ich nehme das zur Kenntnis, mehr aber nicht. Sitze am Fenster, esse einen Streusselkuchen und observiere meine Wand, versuche, Spuren zu entdecken. In diesem Moment ist mir das Wetter egal, wenn es nur zum Wandfuß hin Spuren gibt, dann geht es, denke ich.
Vor der Hütte wo die Seilbahntouristen ihre Ski anziehen montiere ich die Steigeisen und aktiviere den Lawinenpiepser in der Brusttasche meines Fleece. Das zweite Eisbeil lasse ich erstmal am Rucksack stecken. Bei der Querung zur Wand fühle ich mich großartig, wie meist, wenn ich mich vom Rummel weg in Individual-Terrain aufmache. Auf der Hälfte des Zustiegs, den ich anders als im Sommer wähle, treffe ich auf 2 Snowboarder, die sich dort oben auf dem Wandvorbau eine Schanze im Tiefschnee gebaut haben und jetzt "Airs and Styles" trainieren. Gefällt mir irgendwie, daß sie hier oben sind. Ich grüße, sie sehen mein Snowboard und der eine fragt mich verwundert: "Willst Du auf die Alpspitz? Über die Wand?" Ich bejahe. "Und dann fährst wieder runter?" "Ja!" "Über die Bernadeinwände hinter? Cool!", sagt er und ich komme mir verwegen vor. "Aber das Wetter ist schlecht, oder?" - fragt er mir noch hinterher. Ich wiegle ab, "ja ja, so gegen Mittag soll’s erst richtig schlecht werden". Es ist etwa 12 Uhr...
Ich denke noch über diese letzte Bemerkung nach, als ich zu klettern beginne. Es liegt viel Schnee auf den Bändern im unteren Wandteil, weicher, grundloser Schnee. Der erste Teil ist nur über die Felssporne zu machen, als Variante zur Ferrata. Teilweise heikle Kletterei in vereistem Fels, aber maximal kurze Stellen im 4ten Grad. Ein Fallen wäre aber oft nur ein Fallen in den Tiefschnee auf einem der darunterliegenden Absätze, rede ich mir ein, obwohl ich genau weiß, daß ich weit fallen würde. Ich komme gut voran im Fels, einmal löst sich ein Steigeisen, ich verfluche die idiotische Bindungskonstruktion und nehme mir eine Neuanschaffung vor.
Langsam werden die Schneeverhältnisse besser, ich bin größtenteils wieder auf der Ferrata, an den ausgesetzten, steilen Stellen liegen die Drähte frei, oft kann ich mit den Eisgeräten an den Verankerungen haken. Ich fühle mich sicherer auf dem Weg, den ich kenne. Das Wetter wird allerdings immer bedrohlicher. Als die Scharte nach Westen das Höllental freigibt, etwa beim Wandbuch, erfassen mich Sturmböen und werfen mich fast hin. Gut, daß hier das Drahtseil liegt, denke ich, mit dem Snowboard quasi als Segel auf dem Rucksack könnte ich mich wahrscheinlich sonst nicht halten. Dichter Nebel ist aufgezogen, Sichtweite vielleicht 15m, und es schneit. Bei jeder Bö halte ich inzwischen an, schmeiße mich hin und harre an den Fels gedrückt aus. Zum ersten Mal kommen mir jetzt Bedenken und ich denke übers Umkehren nach, und über die letzten Worte des Snowboarders. Aber der bisherige Aufstieg, der vereiste Fels, das tief verschneite Steilgelände schrecken mich noch mehr ab als der weitere Aufstieg.
Mit jeder Bö erfaßt mich ein bißchen mehr so eine Art Panik, ich weiß, daß ich hier jetzt eigentlich nichts verloren habe. Ich rede mir selber ruhig zu, dein Weg führt über den Gipfel, auf der Ost-Seite wirst du im Windschatten sein, dort wird es viele Spuren von Skitourengängern geben. Außerdem, was ist das schon verglichen mit all den Geschichten, die Du gelesen hast, zuletzt noch gestern abend im Auto, Kurt Diemberger, Nanga Parbat. Stell Dich nicht so an, Du Garagenparker, ein bißchen Wind, ein bißchen Schnee, allein, na und? Dramatisier‘ doch diese Situation nicht schon so! Sonst kannst Du nie wirklich schwierige Sachen machen.
In einer Felsnische suche ich etwas Geborgenheit, will mich beruhigen. So gut ist der Windschutz dann doch nicht, wieder kommen Böen, der Becher mit Erdbeermilch wird plötzlich erfaßt und fliegt weg bis außer Sichtweite. Ich erschrecke als die Packung wieder zurückkommt und von einem Wirbel getragen mehrmals außer Sichtweite und dann wieder genau an mir vorbeifliegt. Gespenstisch. Aber weit ist es ja nicht mehr. Ich bin ruhig und lasse alles an mir abprallen. Steige Rehbinder, am Gipfel hat das Drama dann ein Ende.
Nach einer weiteren sehr wackligen Stelle, für die ich einige Böen abwarte, komme ich schließlich oben an. Nein Laure, ich trage mich doch nicht in’s Gipfelbuch ein, aber ich photographiere ich das Kreuz im dichten Nebel. Gehe ein Stuck südwärts, stelle die Kamera auf einen Stein und versuche ein Photo mit Selbstauslöser zu machen. Gerade als es knipst, bläst eine neue Bö die Kamera einfach weg wie ein Stück Papier. Zum Glück kann ich sie im Schnee wiederfinden.
Genug der Eitelkeit, schnell runter nach Osten, in den Windschatten. Mir stockt der Atem, als ich realisiere, daß da gar nichts ist mit etwaigen Skispuren. Statt dessen versinke ich bei jedem Schritt bis zum Bauchnabel im Schnee. Wieder denke ich über einen Abstieg über die Nordwand nach. Nein, alles aber nicht dieser Wind, diese Aggression. Ich schiebe mich durch den Schnee weiter abwärts im Steilgelände. Da bist Du also, Rehbinder. Wenn es so etwas wie Lawinengefahr gibt, dann ganz sicher hier. Ich denke an die "Nachworte" und Schlagzeilen: Ein "Das war klar!" von Pit Schubert, "wie konnte sich jemand, der einige Erfahrung hat, in so eine Lawinensituation begeben?" "Snowboarder, ja ja, keine Ahnung von alpinen Gegebenheiten". "Selbstmord-Freaks auf der Suche nach dem totalen Kick". Ich weiß wie steil der Osthang ist, ich sitze in der Scheiße.
Ok., keine Wahl, ich muß auf’s Snowboard, nur so komme ich da runter. Ich grabe mich weit nach rechts, hier sind Felsen und steige auf einen schmalen Vorsprung, der mir einen festen Untergrund bietet. Angst, große Erschöpfung, ich muß ganz logisch vorgehen. Steigeisen ablegen, Schuhe ausziehen, Snowboard-Boots aus dem Rucksack holen - halt, wer weiß, vorher besser noch die Fleece-Hose überziehen. Als ich gerade die Hose anhabe verliere ich das Gleichgewicht, ein Bergschuh rutscht weg, ich versuche ihn zu halten und falle rückwärts vom Fels. Trotz des tiefen Schnees kann ich mich auf dem steilen Hang erst nach ungefähr 50 Metern halten.
Ich richte mich auf und stecke bis zur Brust im Schnee. Mein erster Gedanke: Jetzt ist es aus. Ich habe weder Schuhe noch Handschuhe an. Einem unglaublichen Glück verdanke ich, daß beide Snowboard-Boots mitgerissen wurden und nicht weit neben mir liegen,. Den besagten Bergschuh habe ich immer noch in der rechten Hand. Wie lächerlich, ich konnte ihn retten. Seltsame Prioritäten in dieser Situation. Falls ich jemals wieder zum Rucksack hochkomme, rufe ich sofort die Bergwacht, ich kann jetzt nicht mehr. Ich bin auch körperlich am Ende. Verzweiflung kommt auf, ich könnte heulen.
Dann werde ich ganz logisch, es gibt nicht zu verlieren. Ich erteile mir selber Befehle: "Schuhe anziehen!" Ich grabe und trete ein kleines Plateau. Steige in die Boots mit all dem Schnee an den Socken. Die Füße sind taub, die Hände auch. "Hoch zum Rucksack!" Mit jeweils einer Hand voran in dem einzelnen Bergschuh quäle ich mich zentimeterweise nach oben, rutsche aber immer wieder weit zurück, falle hin, krieche, grabe. Ich hinterlasse einen Schacht wie beim Kanalbau.
Nach etwa einer halben Stunde erreiche ich den Felssporn und klettere. Der Fels erscheint mir wie die Insel für einen Ertrinkenden. An den Spuren sehe ich jetzt, daß ich vorher etwa 5 Meter tief frei gefallen bin. Kann mich nicht erinnern. Ich erreiche meinen Rucksack, ruhe aus, bin jetzt sehr vorsichtig. Schließlich sitze ich da, Snowboard ist angeschnallt, ready to go. Denke, ok., Rehbinder, auf zu deinem letzten Lawinen-Rodeo. Langsam lasse ich es laufen, Schnee spritzt, fliegt den Hang hinunter. Als sich die Massen nach den ersten Metern noch halten schöpfe ich etwas Mut.
Leider sehe ich nichts. Rund herum nur Weiß. Ich habe überhaupt kein Gefühl für meine Geschwindigkeit, also fahre ich ganz vorsichtig große Bögen und beobachte ständig den Hang. Er bleibt ruhig. Ab und zu halte ich an, gehe in die Hocke und warte darauf, daß der Nebel irgendeinen Orientierungspunkt freigibt. Endlos kommt mir die Strecke vor.
Ja, da! Plötzlich sehe ich durch den Nebel das Drahtseil einer Lawinensprengeinrichtung. Ich weiß wo ich jetzt bin. Ein Glücksgefühl! Ich atme tief durch. Dabei bin ich noch keineswegs sicher. Das Gelände wird flacher, 20 Meter vor mir tauchen unvermittelt Schilder auf: die Abzweigung zu den Schöngängen. Ja! Jetzt immer an den Felsen der Bernadeinwände entlang, ich fahre dicht daneben, so daß ich sie immer sehen kann. Der Schnee wird härter, kurze Zeit später tauchen auch die ersten Skispuren auf. Was für ein verdammtes Glück ich habe!
Zivilisation, Schlepplift, Skifahrer, daß mich das mal so freuen könnte. Ich breche jeglichen ethischen Grundsatz und fahre ein Stück mit dem Lift, steige einfach über die Absperrung, der Aufpasser liest währenddessen Zeitung. Als ich mich über die Kandahar-Abfahrt schließlich meinem Auto nähere regnet es in Strömen. Auf der Heimfahrt fragt mich Maike direkt aus der Badewanne (wo sie gerade Kapitän ist) per SMS was ich gerade so mache. So was ähnliches... antworte ich. Dann, zuhause in München setze ich mich gleich auf einen Stuhl neben der Garderobe. Sitze einfach nur da, bestimmt eine Stunde lang. Nein, gut geht es mir nicht, nein, stolz bin ich nicht im Geringsten.
Ausgeruht am nächsten Tag werde ich die Gedanken über mein leichtsinniges Verhalten erst recht nicht mehr los. Es geht mir nicht gut mit dieser Erfahrung. Ich hatte irrsinniges Glück, aber darauf kann man nicht bauen. Ich kenne mich als jemand der beim Klettern vielleicht schon zu oft und zu schnell umgekehrt ist, manchmal bei kleinsten Bedenken. Meist wäre das im Nachhinein nicht nötig gewesen. Bin ich deshalb diesmal weitergegangen?
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